Westfalentarif — Versteht mich endlich Einer?

(c) Walter Schindler
Am 1. August 2017 ist der Westfalentarif an den Start getreten. Fünf Verkehrsverbünde in den Regionen Westfalen und Lippe haben sich zu einem gemeinsamen Verbundtarif für den Personennahverkehr auf Straße und Schiene zusammengeschlossen. Einer der zentralen Werbesprüche lautet „Westfalentarif, endlich versteht mich Einer“. Ist der neue Tarif tatsächlich die große Verbesserung für die Fahrgäste? Dieser Bericht dokumentiert dazu erste Erfahrungen in der Anwendung des neuen Tarifs. Es zeigt sich, dass auch mit dem Westfalentarif die Nutzung des öffentlichen Personenverkehrs kompliziert bleibt.
Der Westfalentarif gilt im Bereich der fünf Verkehrsverbünde, die als Teilräume mit ihren Regelungen unverändert bestehen bleiben. Das Gebiet des Westfalentarifs wird um die Kragenbereiche der Teilräume an den neuen Außengrenzen erweitert. Diese Bereiche umfassen die unverzichtbaren Transitrouten durch Osnabrück, Hagen und Dortmund. In den Niederlanden ist zum Beispiele Enschede mit eingeschlossen. Bochum und Recklinghausen sind dagegen nicht in das Tarifgebiet oder in Kragenbereiche einbezogen, obwohl sie geografisch zu Westfalen gehören. Auch sind verkehrsübliche Wege zwischen Orten im Kernbereich des Tarifgebiets nicht von Transit-Regelungen abgedeckt. Das betrifft zum Beispiel Iserlohn – Borken über Essen und Siegen – Bocholt über Köln.
Der neue Tarif präsentiert sich im Internet mit der Startseite www.westfalentarif.de. Angeboten wird ein umfangreiches Sortiment an Einzel-, Mehrfach-, Tages-, Zeitkarten und weiterer Arten. Wegen der Fülle der Möglichkeiten beschränkt sich dieser Artikel auf Einzelfahrten. Für Verbindungen, die über die Teilräume hinausgehen, liegt der streckenbezogene Fahrpreis bei ca. 21 Cent/km. Ab einer Entfernung von ca. 120 km gilt ein maximaler Fahrpreis von 26 Euro. Für eine der längsten Relationen von Minden (Westfalen) nach Siegen mit 266 Schienenkilometern sinkt durch die „Deckelung“ der streckenbezogene Fahrpreis auf ca. 9.8 Cent. Die BahnCard wird nicht anerkannt.
Die Tickets sollen schnell und einfach an zahlreichen Verkaufsstellen erhältlich sein. Aber: „Der Verkauf in Bussen ist größtenteils auf eine begrenzte Auswahl an Tickets und auf Tickets mit kurzen Reichweiten beschränkt“. An Fahrkartenautomaten der DB und an mobilen Fahrkartenautomaten z. B. in Zügen der Hessischen Landesbahn sind die Tickets für den gesamten Bereich erhältlich. Preisinformationen gibt der Internet-Auftritt der Deutschen Bahn. Online-Ticket können mit der App „DB Navigator“ für smartphones erstellt werden. Die Möglichkeit ein online-Ticket selbst auszudrucken ist nicht vorgesehen.
Beispiel: Fahrschein für eine Relation innerhalb des Westfalentarifs
Auf Werbeplakaten wurden Relationen im neuen Tarifgebiet beworben, z. B. von Wenden im Kreis Olpe nach Minden. Als Test für den Westfalentarif wurde deshalb die Beschaffung eines Fahrscheins in dieser Relation analysiert. Die Verbindungssuche der Startseite zeigt für die Startzeit 5 Uhr 50 9 Verbindungen innerhalb von 2½ Stunden an. Zwei bis vier Umsteigevorgänge sind erforderlich. Informationen über den anzuwendenden Tarif und den Preis fehlen in der Suchfunktion jedoch. Das ist erstaunlich, weil zum Beispiel im Abschnitt „Fahrt & Tickets“ eine einfache Ermittlung des Ticketpreises versprochen wird. Möglicherweise liegt das daran, dass die Darstellung der Verbindungen für ein smartphone konzipiert ist, die Internetrecherche dagegen an einem PC erfolgte. Bei den Vertriebswegen wird auch der Internetauftritt der Deutschen Bahn angegeben, so dass die Suche dort wiederholt wird. Hier zeigt sich, dass für keine der zuerst angebotenen Verbindungen der Westfalentarif gilt. Nur mit tiefer gehender Kenntnis der DB-Suchfunktion (z. B. „Nur Nahverkehr“ anwählen) und des deutschen Schienennetz („Zwischenhalt von 0 Minuten in Unna“) gelingt es, Verbindungen für den Westfalentarif zu finden.
Die Fahrt beginnt in Wenden mit einem Abschnitt im Bus. Ob der Busfahrer das erforderliche Ticket verkaufen kann, ist nach den Informationen des Westfalentarif fraglich. Der Kauf wäre nur dann als problemlos anzusehen, wenn das Ticket im Bus oder an einem Automaten an der Bushaltestelle für Bargeld oder EC-Karte erhältlich wäre. Die Suchfunktion der DB bietet unter Angebotsauswahl ein Ticket für den erwarteten Preis an, allerdings nicht für die gewünschte Verbindung an einem späteren Tag, sondern zum sofortigen Fahrtantritt.
Bewertung
Die Gestaltung des Internet-Auftritts ist für erfahrene Nutzer gewöhnungsbedürftig. Die Suche nach Verbindungen und Preisen erfolgt schließlich wie gewohnt über die Webseite der DB. Die Webseite des Westfalentarifs ist letztlich nur für Detailinformationen zum Tarif hilfreich. Für Neukunden dürfte die Schwelle zum Aufgeben schnell erreicht sein, da nach der Auswahl einer Verbindung über die Seite des Westfalentarifs nicht sofort gebucht werden kann. Es fehlt auch eine Auswahlmöglichkeit „Nur Verbindungen mit Westfalentarif“. Das gewählte Beispiel ist dabei kein Einzelfall. Die Notwendigkeit, den Halt in Unna mit Null Minuten vorzugeben, betrifft im Westfalentarif nahezu alle Verbindungen von Südwestfalen nach Ostwestfalen, da die Suchfunktionen von Westfalentarif und Bahn zunächst Verbindungen über Bochum ausweisen, die ein mal Umsteigen ersparen, aber eine Aufpreis für den Umweg über Bochum verlangen.
Die im Internet genannten Ziele des Westfalentarifs werden nur unvollkommen erreicht:
1. Transparenz: In den Teilräumen bleiben die bisherigen, uneinheitlichen Regelungen bestehen. In der Fahrpreisauskunft der DB wird zum Beispiel auf Sonderregelungen der Städte Bielefeld, Gütersloh und Paderborn hingewiesen, die für das betreffende Ticket offensichtlich nicht zutreffen. Das dürfte Neukunden verwirren. Einheitlichkeit ist nur für die Verbindungen gegeben, die über die Grenzen der Teilräume hinausgehen.
2. Gerecht: Durch die Deckelung des Fahrpreises sind ab 120 km Entfernung unterschiedlich lange Strecken zum gleichen Preis erhältlich. Darunter hängen die Preise aber von der Entfernung ab.
Zunächst müsste definiert werden was ein gerechter Fahrpreis überhaupt ist. Danach könnte beurteilt werden, ob diese Regelung „gerecht“ ist.
3. Bequem: Für die Teilräume bleibt die Situation unverändert. Für teilraumübergreifende Fahrten sind Tickets beim Busfahrer vermutlich wie bisher nicht erhältlich. Ob örtliche Verkaufsstellen weiterhelfen, müsste noch recherchiert werden. Eine Verbesserung gegenüber dem bisherigen Zustand ist hier nicht zu erkennen. Fahrausweisautomaten der DB bieten das gesamte Sortiment an. Neu ist, dass hier auch für Einzelfahrten Tickets für eine spätere Entwertung erhältlich sind. Für teilraumübergreifende Fahrten sind online-Tickets zum Selbstausdrucken nicht mehr verfügbar. Hier hat sich der Service eindeutig verschlechtert.
4. Attraktiv, da innere Tarifgrenzen verschwinden: Die Beseitigung innerer Tarifgrenzen ist zu begrüßen. Durch die Gestaltung des Westfalentarifs wird aber die Wirkung der äußeren Tarifgrenzen verschärft. So kostet die Fahrt von Siegen nach Minden 26 Euro, die ungefähr gleich lange, aber über die Landesgrenze nach Niedersachsen hinausführende Strecke von Kreuztal nach Bückeburg dagegen mit 47,40 Euro fast das doppelte (beide Relationen über Unna). Hier stellt sich wieder die Frage nach der Gerechtigkeit von Fahrpreisen.
Das grundlegende Erfolgsprinzip des online-Fahrkartenverkaufs der DB — Wahl einer Verbindung und Kauf eines Tickets für die ausgewählte Verbindung — wird vom Westfalentarif nicht erfüllt. Wenn wie beobachtet für eine Verbindung an einem späteren Datum ein Ticket zum sofortigen Fahrtantritt angeboten wird, besteht die Gefahr, dass ein Kunde diesen Umstand übersieht und ein Ticket erwirbt, das für die geplante Fahrt nicht gilt. Das ausgegeben Geld ist dann verloren.
In der Relation Finnentrop – Dortmund werden zwei Preise für den direkten Weg und den Umweg über Hamm (Westf.) angeboten werden. Die Menuestruktur des Automaten wurde gegenüber früheren Zuständen so verändert, so dass Informationen zu den Reiseverbindungen innerhalb des Westfalentarifs nur noch schwer zu finden sind, Stand 21. September 2017, Fahrausweisautomat im Bahnhof Siegen. In einem anderen (Test-) Fall war bereits eine Verbindung ausgewählt, so dass der gewünschte Reiseweg bekannt war und nur die gewünschte Fahrt anzuzeigen gewesen wäre, trotzdem wurden beide Möglichkeiten angeboten.
Der Verzicht auf die Anerkennung der BahnCard betrifft auf den teilraumübergreifenden Fahrten die treuesten Kunden der Bahn. Dass diese dadurch verärgert werden, scheint den Verantwortlichen für den neuen Tarif bewusst zu sein, da ausführlich und gut sichtbar auf die Nichtanerkennung hingewiesen wird. Auf weiten Strecken bietet der Westfalentarif dagegen eine Ermäßigung von 30 % und mehr an, ohne das der Begünstigte dafür eine besondere Leistung erbringen muss. Fahrten mit BahnCard machen nach Angabe des Westfalentarifs nur 2 % der verkauften Tickets aus, gemeint ist hier wohl der Zeitraum vor dem Start des Tarifs. Das hätte genau so gut als Argument für die Beibehaltung dienen können, da ja nur wenige Fahrten überhaupt betroffen sind. Zum Vergleich bietet der Rhein-Main-Verkehrsverbund für Kunden mit BahnCard 25 und BahnCard 50 eine Ermäßigung von 25 % auf weiteren Strecken an, die allerdings nur auf Schienenstrecken außer Straßenbahn und U-Bahn gilt. Eine ähnliche Regelung ist auch für den Westfalentarif wünschenswert.
Online-Tickets zum Selber ausdrucken werden nicht mehr angeboten. Für einen bequemen Ticket-Kauf ohne Warteschlangen vor dem Fahrkartenautomaten oder unfreiwilliges Schwarzfahren wegen defekter Automaten wird dadurch die Nutzung eines smartphones erzwungen. Diese Einschränkung des Service hätte zumindest eine ähnlich ausführliche Begründung verdient, wie die Nichtanerkennung der BahnCard.
Der Westfalentarif deckt ungefähr die Hälfte des Bundeslandes NRW ab. Für Fahrten aus diesem Bereich in die interessantere Hälfte gilt weiterhin der NRW-Tarif. Die Preisauskunft und der mögliche Erwerb der Tickets im Internet sind in beiden Fällen über „Fahrplan und Buchung“ im DB Internet-Auftritt möglich. Der NRW-Tarif umfasst auch Teilstrecken mit dem Bus, sowie die Nutzung des lokalen Nahverkehrs im Start- und Zielbereich.
Der Vergleich der Tarife zeigt als wesentliche Unterschiede:
• Auf weiten Strecken ist der NRW-Tarif teurer
• Die BahnCard wird anerkannt
• Tickets zum Selbstausdruck sind verfügbar.
Fazit:
Bei der Suche nach Verbindungen und dem Kauf von Fahrkarten ist der Westfalentarif unprofessionell gestaltet. Für erfahrene Kunden ist das ärgerlich. Neukunden könnten dadurch verunsichert und von der Nutzung des Westfalentarifs abgehalten werden. Das Prinzip „Suche einer Verbindung und Kauf eines Fahrscheins für die gewählte Verbindung“ ist für einen zeitgemäßen Fahrscheinverkauf zwingend. Der Abbau innerer Tarifgrenzen geht mit einer Verschärfung der Wirkung der äußeren Tarifgrenzen einher. Ob die Streichung des BahnCard-Rabatts aus Fahrgastsicht sinnvoll ist, sollte weiter diskutiert werden. Der Zwang zur Nutzung eines smartphones für einen komfortablen Erwerb von Tickets hätte begründet werden müssen. Der NRW-Tarif zeigt, dass durchgängige Fahrscheine für die gesamte Reisekette bereits vor Einführung des Westfalentarifs erhältlich waren. Deshalb ist nicht zu verstehen, warum die Tariflandschaft im öffentlichen Personenverkehr um einen weiteren Tarif erweitert werden musste.