Unglaublich, aber trotzdem wahr, 100 Fahrgäste bleiben zurück

Unglaublich, aber trotzdem wahr, 100 Fahrgäste bleiben zurück

(von Walter Schindler)

Es ist Sonntag, 2. Januar 2011, 11.50 Uhr, Hauptbahnhof Siegen. Ich stehe am Mittelbahnsteig. Auf Gleis 3 steht abfahrbereit mit dem Fahrtziel Frankfurt der Zug der Hessischen Landesbahn GmbH (HLB), planmäßige Abfahrt 11.54 Uhr. Von meinem Standort kann ich auch das Gleis 54 einsehen. Dort ist der Zug der DB Regio Rheinland GmbH, der RE 10947 aus Aachen und Köln, planmäßige Ankunft 11.50 Uhr, noch nicht eingetroffen.
11.53 Uhr sehe ich den Regionalexpress aus Aachen auf Gleis 54 einfahren. Im selben Augenblick erfolgt an Gleis 3 in forschem Ton die Lautsprecherdurchsage „Bitte einsteigen“, die Türen des Zuges nach Frankfurt schließen sich.
Die Fahrgäste des aus Aachen eintreffenden Zuges steigen inzwischen aus und machen sich, Alte, Junge, Menschen mit Handicap, Schnelle und Langsame mit oder ohne Gepäck, mit kleinen Kindern und Kinderwagen, schnellen Schrittes oder laufend, auf den Weg Richtung Gleis 3, Entfernung 200 –  400 m. Der spurtstärkste Fahrgast erreicht den noch stehenden Zug Richtung Frankfurt, er läuft ein Stück entlang des Zuges und versucht mehrfach Türen zu öffnen. Die Türen sind bereits verriegelt. Es ist inzwischen fast 11.55 Uhr. Lediglich drei oder vier ebenfalls spurtstarke Umsteiger haben den Zug auch noch vor dessen Anfahrt erreicht. In diesem Augenblick ertönt das Signal zur Abfahrt und der Zug setzt sich pünktlich in Richtung Gießen und Frankfurt in Bewegung. Genau so, wie es die vertragliche Vereinbarung vorschreibt.
Wenig später. Inzwischen sind die meisten der insgesamt etwa 100 Fahrgäste am Gleis 3 eingetroffen. Betroffene, ungläubig erstaunte oder entsetzte Blicke folgen dem ausfahrenden Zug. Einzelne wütende Stimmen sind zu hören, Rufe nach einem Bahnmitarbeiter werden laut. Nirgendwo ist eine Servicefachkraft der Bahn zu sehen. Das Reisezentrum im Hauptbahnhof der Großstadt Siegen öffnet an Sonn- und Feiertagen um 12.30 Uhr. Die Reisenden sind mit ihrer Wut allein gelassen.
Der nächste Zug der HLB in Richtung Gießen/Frankfurt fährt an Sonn- und Feiertagen um 13.54 Uhr. 100 Reisende haben jetzt 2 (!) Stunden Zwangsaufenthalt in Siegen.
Mehrere Reisende frage ich nach ihren Einstiegs- und Zielbahnhöfen, Relationen wie Köln – Marburg, Wissen – Gießen, Kirchen – Frankfurt und einmal Betzdorf – Zürich sind darunter. Kaum hat die Reise begonnen, ist sie schon wieder für 2 Stunden unterbrochen, ganz ohne betriebliche Störung, eigentlich planmäßig, nur wegen einer dreiminütigen Verspätung des Zuges aus Köln. Viele wollen sich beschweren, sie sind fassungslos.
Um 12.25 Uhr taucht am Mittelbahnsteig unvermittelt ein junger Mitarbeiter von DB Station & Service auf. Nur noch wenige der betroffenen Reisenden halten sich zu diesem Zeitpunkt am Bahnsteig auf. Ich schildere ihm die Situation. Freundlich lachend erhalte ich die Antwort: Die Reisenden könnten ja die 2 Stunden Wartezeit für eine Stadtbesichtigung nutzen. Siegen sei auch eine sehr schöne Stadt. Ich erspare mir eine Antwort.